by Siegfried von Vegesack
Teil 1 der Baltischen Tragödie
Rezension kopiert von: Lettische Presseschau:
Was dieses lange Prosawerk tragisch macht, sind die historischen Ereignisse, die es realistisch widerspiegelt: Die Hauptfigur Aurel von Heidenkamp, der jüngste Spross eines deutschbaltischen Gutsherrn, erlebt als Kind die letzten Tage ländlicher Idylle, als Jugendlicher wie ein Wendepunkt die Revolution von 1905 und zuletzt die Katastrophe des Weltkriegs und der politischen Terrorjahre. Dieser historische Rahmen gliedert die Trilogie: Im ersten Teil „Blumbergshof“, sozusagen der Exposition, zeichnet der Er-Erzähler die Kindheit eines heiteren Landlebens, das aber bereits die befremdliche Distanz zwischen den Ethnien verdeutlicht. Aurel wächst von Eltern und Dienerinnen behütet auf. Er fühlt sich wohl in der noch feudalen Welt, über die sein Vater als geachteter Baron waltet. Doch Vorausdeutungen weisen auf kommende Schrecken. Aurel empfindet die soziale Distanz, die ihn von den lettischen Dienern trennt. Sie ist wie eine unsichtbare Wand, die ihn tödlich umschließt:
„Wieder war die Glaswand da, diese unsichtbare Mauer, die ihn von Janz, von Mickel, von Indrik und sogar vom alten Marz trennte. Alle diese Leute sagten zum Vater: `Großherr`, zur Mutter `Großfrau` und zu ihm und den Brüdern: `Jungherr`. Es war wie ein Zauberwort, mit dem sie Vater, Mutter und Brüder in einen gläsernen Sarg bannten. Und nun sollte auch er dort eingeschlossen werden.“ (S. 17)
Das Kind Aurel möchte zu ihnen gehören. Seine lettischen Freunde verhalten sich natürlicher und lebendiger, essen – von adeligen Benimm-Regeln unbehelligt – ihre Armenspeise:
„Und wie beneidete er alle diese Menschen, die so unbekümmert schwatzten und Späße machten, die schmatzend, mit aufgestützten Ellbogen, den Kaffee schlürften und sich mit Butter gemischten Quark auf die dicken Schwarzbrotschnitten schmieren durften. Drinnen im Speisezimmer gab es nur Butter. Und wieviel schöner schmeckte dieser weiße körnige Quark!“ (S. 16)
Aurel kann die Distanz zu den Letten nicht überwinden. Mit dem Bewusstsein, dass er nicht nur einer besonderen Schicht angehört, sondern auch eine besondere Sprache spricht, bildet sich seine Identität heraus. Diese ist noch feudal geprägt, sieht in den deutschen Baronen die natürlichen Herrn über Grund und Boden. Doch das Deutschbaltentum ist längst bedroht. Der Zar möchte die Ostseeprovinz russifizieren und die Letten emanzipieren sich, wollen fremden Herrschaften nicht mehr gehorchen. Ihre Wut über die Verhältnisse enthemmt sich zunächst durch das Gesöff der Schnapsbuden. Später wird sich lettischer Zorn in Streiks, Revolution und Brandschatzungen der Herrenhäuser entladen. Zu Aurels Identität gehört die traditionelle Manneserziehung, die die vermeintlich weiblichen Anteile mehr und mehr unterdrückt. Als kleines Kind spielt er lieber mit Puppen, empfindet Mitleid mit gequälten Tieren, fragt sich, warum die Welt so ungerecht in Arm und Reich geteilt ist. Doch die kulturell vermittelte Manneszucht fordert Tribut, Tränen werden in öffentlicher Runde verlacht:
„Aurel schluckt und schluckt, Eiskugeln rollen ihm über den Rücken, und in der Kehle brennt es heiß. Lange hält er sich tapfer, starrt angestrengt auf den Teller, auf das Wachstuch mit den bunten Max-und-Moritz-Bildern, aber plötzlich verschwimmt alles vor seinem Blick, brennend schießt es in seine Augen, es strömt und strömt, er schluchzt mit zuckenden Schultern. Und dann hört er dies schreckliche Gelächter, sieht durch den Tränenschleier lauter lachende Köpfe, auch das vom Wein gerötete Gesicht des Vaters lacht, ja, er macht sich sogar über ihn lustig und zuckt, ihn nachäffend, mit den Schultern. Noch nie war der Vater ihm so fremd, ja, in diesem Augenblick haßt er ihn.“ (S. 53).
Aurel wird ein Mann, der das Jagen lernt. Seine deutschbaltische Gesinnung macht ihn konservativ. Er will den bestehenden Zustand verteidigen, dies wird sich als aussichtsloses Unterfangen herausstellen. Das Kommende wird die Herrenschicht zur gefährdeten ethnischen Minderheit degradieren. Vegesacks Prosatragödie liest sich wie ein Roman scheiternder Entwicklung. Aurel wird auf eine Welt vorbereitet, die auf diese Weise nicht mehr lange bestehen kann. Der Tod des Vaters beendet die Idylle des ersten Teils.
Facts:
English title: n/a
Original title: Blumbergshof
Published: 1933